Gehörlosenkultur

Die Gehörlosengemeinschaft sieht sich nicht als eine Selbsthilfegruppe, die zusammenkommt, um ihre Probleme mit der hörenden Welt zu besprechen. Sie ist in erster Linie eine Sprachgemeinschaft mit gemeinsamen Kulturgut, Bräuchen, Identität und Sprache. Es muss aber auch betont werden, dass nicht (immer) der reine Hörverlust ausschlaggebend für die Dazugehörigkeit zu der Gehörlosengemeinschaft ist. Auch hörende Personen, meist Kinder gehörloser Eltern, werden als ein Teil dieser Gemeinschaft akzeptiert, denn die innere Haltung und das Problemverständnis ist ausschlaggebend.

Diese Gemeinschaft hat ganz spezifische Verhaltensmuster: Begrüßungen, Augenkontakte, die Verlagerungen der Aufmerksamkeit, wenn jemand etwas sagen will,..... Und sie benützen auch Alltagsgegenstände , die sie von hörenden Menschen unterscheiden: Lichtwecker, Vibrationswecker, Lichtglocke, Fax, Schreibtelefon....

Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Gehörlose haben keine Höflichkeitsform „Sie“ in ihrer Anrede. Sie drücken ihre Verehrung und ihren Respekt intensiver in der Körpersprache aus. Diese Kultur besteht also aus den spezifischen Verhaltensregeln und Besonderheiten, die aus den Bedürfnissen dieser Gemeinschaft heraus entstanden sind und sie wird an die Kinder weitergegeben. Sie vereint Gehörlose aus allen Schichten, Altersgruppen, Hörbeeinträchtigungen und Gebärdensprachkenntnissen. Diese Gemeinschaft hilft dem Gehörlosen seine Identität, sein Selbstwertgefühl aufzubauen.

In der Gehörlosengemeinschaften spielt sich auch das kulturelle Geschehen ab. Gehörlosengemeinschaften der einzelnen Städte oder Stadtteile bilden meist freiwillige Sozialorganisationen, wie Sportklubs oder Theatergruppen, die sich innerhalb des kulturellen Kontext dieser Gemeinschaft bewegen und für sie und vor allem mit ihnen arbeiten. Man muss aber auch die aktive Reisefreudigkeit gehörloser Personen bewundern. Weil sie als Minderheit so weit verstreut sind, kommen zu einer besonderen Feier Gehörlose oft aus anderen Ländern angereist, um Kontakte zu knüpfen und meist halten diese Kontakte sehr lange. Durch das Medium des Internets und Faxgeräte ist es ihnen möglich über weite Strecken hinweg Freundschaften zu pflegen, auch wenn ihre Schriftsprache nicht die beste ist.

Ein großer Teil der Verantwortung der Gemeinschaft liegt in der Identitätsbildung ihrer Mitglieder. Es ist eine allgemeine Tatsache, dass Leute, die nicht „der Norm“ entsprechen, stets Probleme haben, zufriedenstellende Sozialbeziehungen zu knüpfen und zu leben. Jeder glaubt, dass ein Behinderter alles tun würde, um „normal“ zu werden. Da die meisten gehörlosen Personen hörende Eltern haben, werden sie schon sehr früh damit konfrontiert. Die Eltern sind geschockt, ein behindertes Kind zur Welt gebracht zu haben, die meisten Mütter quälen Schuldgefühle. Die Umwelt bemitleidet die Familie. Alle sind nun mehr damit beschäftigt, das Kind zu „normalisieren“, statt ihre Energie dahingehend zu investieren, dem Kind seine Zukunft so leicht wie möglich zu gestalten. Die besten Ärzte werden aufgesucht, Broschüren über Cochlear-Implantate verschlungen. Von solchen Voraussetzungen ausgehend ist es für ein Kind nur schwer möglich, eine gefestigte Identität aufzubauen.

Deshalb ist die Gehörlosenkultur besonders wichtig, um jeden einzelnen seiner Mitglieder zu helfen eine „gehörlose Identität“ aufzubauen. Sie hilft dem Einzelnen eine Sprache zu finden, Werte aufzubauen, seine „Behinderung“ im geschützten Rahmen zu vergessen.